Evangelikale in Berlin
15:44 Minuten
Von Nana Brink·02.12.2019
Evangelikale Kirchen aus den USA fassen immer erfolgreicher in Deutschland Fuß. Die wachsende Saddleback-Gemeinde in Berlin feierte kürzlich ihren sechsten Geburtstag. Der persönliche und unverkrampfte Zugang zur Religion spricht vor allem Jüngere an.
Man könnte meinen, ein Filmstar besucht den Zoo Palast. Es bilden sich Menschentrauben vor dem Eingang, überall sind verzückte Gesichter zu sehen, Smartphones gehen in die Höhe. Genau betrachtet ist Rick Warren ein Star, auch wenn er vielleicht nicht so aussieht. Wie ein großer tapsiger Bär sucht er sich seinen Weg durch die Menge, umarmt jeden, den er zu fassen kriegt.
"Jetzt bin ich seit eineinhalb Jahren in der Berliner Gemeinde und ich finde ihn einen tollen Prediger. Es ist einfach gut, ihm zuzuhören. Hör' dir mal die Botschaft an - allein die Art und Weise, wie er spricht. Er ist ja bescheiden und sehr normal, aber man merkt, dass er Gott gut kennt", erzählt ein Besucher. "Ich kenne Rick schon einen Weile, seine Art der Ermutigung, wie er redet, seine ganze Rhetorik, natürlich auch den Inhalt. Ich bin schon von Anfang an dabei in der Gemeinde, und wir haben viel Spaß." Es seien Sachen dabei, die man richtig praktisch anwenden könne.
Zum Geburtstag kommt der Chef persönlich
Rick Warrens Saddleback Church gehört mit über 40.000 Mitgliedern zu den evangelikalen Mega-Kirchen in den USA, mit Ablegern in Hongkong, Manila und Buenos Aires. Seit genau sechs Jahren hat Saddleback auch eine Gemeinde in Berlin. Zum ihrem Geburtstag kommt der Chef persönlich.
Es dauert, bis Rick Warren den rot ausgeleuchteten Kinosaal im Zoo Palast erreicht. Er schüttelt Hände, lacht laut und drückt seine Anhänger. Fast 1.000 Gottesdienstbesucher sind gekommen. Als Dave Schnitter, Pastor der Berliner Gemeinde, die Bühne betritt, stehen sie auf, klatschen und winken.
Dave Schnitter ist Pastor der Saddleback Gemeinde in Berlin.© Nana Brink / Deutschlandradio
Dave Schnitter ist so etwas wie die jüngere Kopie von Rick Warren. Groß, breit und mit einem Dauergrinsen im Gesicht. Beide Männer umarmen sich und stehen wie zwei Football-Spieler vor der Menge. Dann senken sie die Köpfe und wie auf Kommando verstummt die Gemeinde. Der Gottesdienst beginnt. Mit einem Gebet und einer Botschaft: Jesus liebt Dich, aber damit ist er nicht allein.
Eine der erfolgreichsten christlichen Neugründungen in Berlin
Das Büro der Saddleback-Filliale in Berlin liegt im Erdgeschoss eines Altbaus im bürgerlichen Stadtteil Charlottenburg und sieht eher aus wie ein Studentencafé. Abgewetzte Ledersofas, Laptops, bunte Poster. Der Text darauf: Jesus liebt dich! Mit über 1.000 Mitgliedern ist Saddleback eine der erfolgreichsten christlichen Neugründungen in Berlin.
Und das in einer Stadt, in der weit über die Hälfte der Einwohner nicht religiös gebunden ist. Neben den Christen mit 25 Prozent stellen die Muslime mit zehn Prozent die meisten Gläubigen. Viele Mitglieder von Saddleback haben der evangelischen Kirche den Rücken gekehrt – so wie Marwitz, der im Büro mitarbeitet und jetzt draußen schnell eine raucht: "Also ich war früher viel in der evangelischen Kirche. Nein, es ist wirklich so, die Jungen wurden meistens nicht angesprochen, und es war auch sehr strikt, alles hatte seine Regeln. Und hier kann man kommen, wie man ist und wird willkommen geheißen. Für eine Großstadt ist das Wahnsinn."
Spöttisch als "Bibelkreise" bezeichnet
Marwitz ist Mitte zwanzig und studiert. Über einen Freund ist er zu Saddleback gekommen. Ähnlich wie Tony, der von Anfang an dabei ist und sagt: "Die Botschaft war wichtig, sich persönlich weiter zu entwicklen. Nicht nur 'Also wir lesen jetzt was aus der Bibel', sondern 'Wir gehen heute mal durch, wie du besser im Beruf werden kannst.' Für mich war es wirklich so, dass ich ein spirituelles Zuhause gefunden habe, obwohl ich noch nicht einmal danach gesucht habe."
Die meist spöttisch bezeichneten "Bibelkreise" bekommen bei Saddleback eine völlig neue Bedeutung. Neben den Sonntagsgottesdiensten, die mit Live-Musik wie Feste zelebriert werden, treffen sich die Gemeindemitglieder in kleinen Gruppen, meist zu Hause. Rolf Schieder, Professor für Praktische Theologie an der Humboldt-Universität in Berlin, hält das für eines der Erfolgsrezepte: "Wenn wir mit einem Freund oder einer Freundin reden und der oder die spirituelle, religiöse Bedürfnisse äußert, würden wir empfehlen, doch lieber mal zum Therapeuten zu gehen oder ein Bier zu trinken. Also religiöse Lebendigkeit ist bei uns eher etwas, was wir kritisch betrachten, dass ist aber in den USA nicht der Fall. In den Metropolen, wo es eine gewisse Schicht von jungen, nach Erfolg suchenden Leuten - auch mit Familien - gibt, sind solche Angebote durchaus attraktiv. Also der Stil ist der Stil ihrer Generation. Aber es ist auch ein Netzwerk, wo man sich beruflich gegenseitig unterstützen und helfen kann", sagt Schieder.
Die Menschen dort abholen, wo ihre Probleme liegen. Lebensberatung verknüpft mit einem spirituellen Angebot, dass hat auch den Berliner Detlev von Saddleback überzeugt. "Wir haben auch die erste Kleingruppe gestartet, wo wir uns treffen, austauschen, ganz praktisch über die Alltagsprobleme reden und uns dann fragen: Was sagt Gott uns dazu? Und dann beten wir auch. Und alle gehen immer total emotional aufgeladen nach Hause, das Kleingruppenkonzept ist genial."
Gottesdienst in Partymanier
Es ist Sonntagmorgen 10 Uhr. Saddleback Berlin hat für seine Gottesdienste eine Partylocation in Mitte gemietet. Rund 300 Menschen kommen durchschnittlich jeden Sonntag. Auch Maripili ist mit ihren beiden Kindern dabei. "All nations church", nennt sie die Kirche. "Ich komme aus Südamerika, aus Ecuador, und bin mit einem Deutschen verheiratet. Neulich haben wir einen afrikanischen Gottesdienst gefeiert, weil wir so viele aus Afrika haben, dann haben wir den Latino-Sunday gemacht, weil wir so viele Latinos haben. Ein großer Anteil sind Expats. Es passt wirklich zu der Stadt, wir sind schon 40 verschiedene Länder."
Jeden Sonntag während des Gottesdienstes gibt es eine Kinderbetreuung. Saddleback spricht vor allem junge Leute an - auch Familien mit kleinen Kindern. Viele kommen aus dem Ausland. Aber es werden auch solche angesprochen, die den traditionellen Kirchen den Rücken gekehrt haben - so wie Robert. Der 50-jährige Berliner hat schon viel ausprobiert. Heute steht er im Gottesdienst und lässt sich von der Musik treiben. "Wenn Jesus rüberkommt, ist es mir letztendlich Wurst, wo es gepredigt wird. Es muss mich einfach ansprechen und die Freikirchen sind insgesamt wesentlich interessanter für mich als die Gottesdienste in den Landeskirchen. Die sind mir zu steif. Man freut sich mehr. Man freut sich, dass man Gott trifft, dass man Jesus trifft, und es ist eine coole Nummer."
Partystimmung am Sonntagvormittag: Der Gottesdienst im Zoopalast Berlin.© Deutschlandradio/ Nana Brink
Pastor Dave Schnitter weiß, wie er seine Gemeinde in Stimmung bringt. Es wird gesungen, geklatscht, getanzt - Partystimmung am Sonntagvormittag. Die Botschaft ist etwas verschwommen, aber das scheint niemanden zu stören. Was hängen bleibt: Jesus liebt dich! "Kann man denn auch Glauben leben auf eine nicht so traditionelle Art, auf eine moderne Art, weil es näher dran ist am Leben? Und weil dem Durchschnittsberliner die traditionellen Formen so fremd sind, weil wir Lieder singen aus dem 17. Jahrhundert, mit Instrumenten aus dem 18. Jahrhundert, auf Kirchenbänken aus dem 16. Jahrhundert - und das ist ja alles so weit weg von uns", erklärt Schnitter. "Ich glaube, Leute, die so eine spirituelle Ader haben, und denen Glauben wichtig ist, für die ist das spannend."
Evangelikal: ein politisches Wort
Der Erfolg allerdings ist dennoch verwunderlich für Berlin, bezeichnet sich die Mutterkirche in den USA doch als "evangelikal". Schnitter hockt unter einem Jesus-Poster in seinem Büro und definiert sich lächelnd ebenfalls als "evangelikal". Bis er merkt, was er damit auslöst. "Ah, jetzt habe ich das Wort benutzt: Evangelikale. Das Wort 'evangelikal' heißt ja eigentlich, wir sind dem Evangelium treu, wenn wir diese Definition nehmen, dann sehr gerne, aber leider ist evangelikal ja auch ein sehr politisches Wort geworden: Evangelikal heißt vielleicht Trump-Wähler oder Abtreibungsgegner - und da ist man gleich in so einer Schublade drin. Aber ich bin ein evangeliumstreuer Christ, wenn es um die Bibel geht. Ich weiß nicht, ob das Sinn macht?"
Der Begriff "evangelikal" ist zunehmend unscharf geworden - und das nicht nur in den USA. Im Grunde bedeutet er: Die zum Teil wörtliche Auslegung der Bibel und eine persönliche Beziehung zu Jesus Christus. Viele Freikirchen eint, dass sie sich unabhängig von der protestantischen Kirche organisieren. Ihr Einfluss in Amerika ist groß. Rund 25 Prozent aller Christen bezeichnen sich dort als "evangelikal". In Deutschland schätzt man den Anteil auf drei Prozent. Tendenz steigend. Die Frage, die sich Martin Radermacher, Religionswissenschaftler an der Ruhr-Universität Bochum, stellt ist: Wollen sie - ähnlich wie in den USA - Politik machen? "Wenn ich jetzt nur diese Niederlassungen dieser Mega-Kirchen in Deutschland betrachten, sehe ich eigentlich keine aktiven Bestrebungen, unmittelbar politischen Einfluss zu nehmen."
Der unverkrampfte Zugang zur Religion spricht vor allem Jüngere an.© Deutschlandradio/ Nana Brink
Saddleback Berlin zählt mit über 1.000 Mitgliedern zu den größten Neugründungen in Deutschland. Und wie in den USA finanzieren die Gläubigen ihre Kirche selbst, mit dem so genannten "Zehnten". Ein Anhänger erklärt das Prinzip: "Es gibt in der Bibel, im Alten Testament, eine Stelle, da ging es hauptsächlich um die Ernte: Zehn Prozent der Ernte sollte man beiseite legen und dann in den Tempel bringen. Und von dort wurde es verteilt an die Armen sozusagen, das war das Sozialsystem damals, da kommt das her. Wir reden darüber, aber wir kontrollieren das jetzt nicht."
Von der Start-up-Kirche zum Franchise
Organisiert als eingetragener Verein ist Saddleback mittlerweile unabhängig von der Mutterkirche. Schnitter erzählt: "Am Anfang haben wir Support gehabt. Das war ein großer Segen für uns, dass wir als kleine Start-up-Kirche Unterstützung hatten, mittlerweile sind wir selbsttragend. Also ich bin zwei- oder dreimal im Jahr auch drüben, Rick ist unser gemeinsamer Pastor, auch wenn er kaum hier ist. Aber ich bin der Stellvertreter vor Ort – also modern würde man sagen wie so ein Franchise. Wir sind die Berliner Filiale sozusagen."
Und wie in jedem Franchise-Unternehmen gibt die Zentrale die Richtung vor. Das ist auch bei Saddleback nicht anders. Jeden Sonntag wird die Predigt von Kirchengründer Rick Warren per Video in den Gottesdienst übertragen. Schnitter predigt nicht selbst. Für Religionswissenschaftler Radermacher ein klares Signal: "Natürlich ist aber die Abhängigkeit von Saddleback sehr groß, denn gerade Saddleback ist ja zentriert um die Figur Rick Warren. Das ist eine charismatische Persönlichkeit, ein Prediger, der die Leute fesseln kann. Er versteht es auch ganz gut, sich an populärkulturelle Stile anzupassen und dabei doch konservative christliche Inhalte zu transportieren. Aber er kann damit umgehen, dass diese Themen gerade in Deutschland ganz anders aufgenommen werden als bei manchen sehr konservativen Christen in den USA."
"Gott liebt die Vielfältigkeit"
Wie das geht, zeigt Warren bei seinem Auftritt im Berliner Zoo Palast. "Wenn Du irgendwo in der Welt in eine Saddleback Kirche gehst, wirst Du hören, wie Gott in 100 Sprachen gepriesen wird. Wir haben uns von Anfang an dafür entschieden, nicht eine langweilige Kirche nur für eine Nation zu sein. Gott hat über 6.000 Käfer erschaffen, Gott liebt die Vielfältigkeit", sagt Warren.
Die Zuhörer in Berlin sind begeistert. Er erzählt von den Käfern, die Gott gemacht hat und warum er alle Menschen liebt. Alle? Als konservativer Baptist glaubt Warren an monogame Zweierbeziehungen und Enthaltsamkeit bis zur Ehe. In der Vergangenheit hat er sich öffentlich gegen die Homo-Ehe ausgesprochen - ein Thema, dass er geschickt umschifft.
Ein Star zum Anfassen
Warren erklärt: "Jeder verdient Würde und Respekt. Als ein Anhänger von Jesus Christus muss ich meine Feinde lieben. Sie müssen mich nicht lieben, aber ich darf niemanden hassen. Das heißt nicht, dass ich mit jedem übereinstimmen muss und die Leute müssen nicht einverstanden sein mit dem, was ich glaube. Aber jeder ist willkommen, egal wie er lebt und welches Geschlecht er hat. Jeder ist willkommen."
Der Chef kommt höchstpersönlich: Rick Warren mit Anhängern im Zoopalast Berlin.© Deutschlandradio / Nana Brink
Nach dem Gottesdienst reihen sich die Besucher brav in eine Schlange ein für ein Selfie mit Warren, ein Star zum Anfassen. Er umarmt nochmals jeden, lächelt und hört geduldig zu.
"Eine wirklich gute Botschaft, im Herzen gelandet. Dass die Grundwerte von Saddleback so schön noch mal dargestellt werden. Mich sprechen die an, deshalb bin ich bei Saddleback", sagt ein Anhänger. Der Einsatz des Saddleback-Gründers Warren in Berlin hat sich gelohnt. Der Zoo Palast ist ausverkauft. Am Ende des Gottesdienst tragen sich 50 neue Mitglieder ein.